Ich frag mich

Literaturzeitschrift &Radieschen, 2013

Manchmal frag ich mich, ob ich unsichtbar bin.
Wenn mir der Heinz entgegenkommt. Zwischen dem Klo und dem Kopierer. Im Gang mit der flackernden Neonröhre und dem schmutzigen Teppichbelag. Dann lächle ich ihn an. Aber er sieht mich nicht, schaut zu Boden, auf die Uhr oder die Kopien in seiner Hand. Ich weiß dann nicht, wohin mit meinem Lächeln, und bevor ich es wegschmeiße, schenk ich es lieber dem Teppich.
Woran es wohl liegt, dass er mich nicht sieht. Vielleicht an dem schlechten Licht im Gang. An der Strickjacke, die ich immer trage und die so grau ist wie der Boden. Oder an seinen Gedanken, die so schwer sein müssen, dass er den Kopf senkt.
Anders kann ich’s mir nicht erklären.

Ich frag mich das auch, wenn der Chef etwas braucht.
Weil er neuerdings zur Uschi geht mit seinen kleinen Bitten. Sich hinter meinem Tisch vorbeizwängt, zwischen mir und dem Gummibaum. Dabei über den Papierkorb stolpert, jedes Mal wieder. Ich roll dann mit dem Sessel nach vorn, um nicht im Weg zu sein. Und stell mir vor, dass er sie fördern will, die Uschi. Die kann ja nicht viel, so jung wie sie ist. Wenn er weg ist, sitzt sie oft da und kennt sich nicht aus. Schaut zu mir, ganz verzweifelt und bittet um Hilfe. Ich helf ihr dann auch, ich bin ja nicht so. Aber nicht gleich. Und auch nur ein bisschen.
Meistens ist er zufrieden mit dem Ergebnis, dann lächelt er und macht ein paar Witze. Auch wenn nicht alles passt, was sie gemacht hat. Mit ihr schreit er nicht herum, vielleicht aus Angst, dass sie ihm davonrennen könnte. Die schreckt sich ja gleich, so jung wie sie ist.
Ich renn dem Chef nicht mehr davon, und für mich braucht er auch keine Witze zu reißen.
Das weiß er bestimmt. Und lässt mich in Ruhe.

Jedenfalls frag ich mich, wie die Uschi das macht.
Dass der Heinz schon von weitem so grinst, wenn er sie sieht. Daher weiß ich, dass er lächeln kann. Und allzu schwere Gedanken dürfte er auch nicht haben, obwohl er den Blick auch bei ihr senkt. In ihren Ausschnitt, das hab ich gesehen.
Ich hab mir eine bunte Bluse gekauft. Was anderes als sonst. Danach war ich beim Hausdiener – wegen der Neonröhre im Gang. Dreimal hab ich hingehen müssen bis er sie gewechselt hat, der faule Hund. Seitdem ist das Licht viel besser, und ich bin nicht mehr grau.
Doch er sieht mich trotzdem nicht. Und schaut auf den Boden.

Langsam frag ich mich, ob ich das ausnützen soll.
Das mit der Unsichtbarkeit. Bei der Besprechung gestern bin ich einfach rausgegangen. Weil es so langweilig war. Ein paar Kollegen haben kurz von ihren Zetteln aufgeschaut und dann gleich weiterbesprochen. Als hätten sie sich geirrt. Zu Mittag hab ich mich in der Kantine vorgedrängt, an zwei Leuten vorbei. Gar nichts gesagt haben sie, haben nur Augen für die Vitrine gehabt. Und heute hab ich etwas gemacht, was ich mich sonst nie getraut hätte. Ich hab der Uschi das Geldbörsel gestohlen. Aus ihrer Tasche, und als sie beim Chef war. Nicht wegen dem Geld, mehr wegen dem Heinz.
Geheult hat sie, da hab ich es bereut. Vom Heinz hat sie sich trösten lassen, das hat mich geärgert. Die Bedienerin haben sie verdächtigt, diese kleine, blasse Person.
Ihr trauen sie das zu, und mir nicht.

Jetzt frag ich mich, wie sie mir draufgekommen sind.
Und ob mich jemand gesehen haben kann. An dem Abend, an dem ich mit der Uschi allein im Büro war. Vielleicht haben sie meine DNA gefunden. Obwohl ich das Küchenmesser nachher in den Geschirrspüler gesteckt hab. Ich hab gedacht, dass so eine DNA runtergeht bei 70 Grad. Vielleicht hab ich auch etwas verloren im Gang. Auf dem Teppich, der jetzt noch schmutziger ist als vorher. Dunkelrot, fast Schwarz von dem Blut. Den Fleck kriegen sie nicht mehr heraus.

Jetzt sitz ich da am Revier. Und jetzt tut es mir leid. Aber nur, dass es die Uschi geworden ist und nicht der Heinz. Der Kommissar sitzt vor mir und sieht mich an, die ganze Zeit schon. Auch die zwei Polizisten schauen mich an. Ich schau zurück. Und auch hier bin ich die einzige, die lächelt. Weil mich das alles so ans Büro erinnert. Das Licht ist schlecht und der Teppich grau, und ich hab meine alte Strickjacke an.
Trotzdem sieht man mich. Aber leider erst jetzt.