Tage am Küchentisch *4
Geschichten aus dem ersten Lockdown.
Noch ein Tag
Ian und ich stellen fest, dass wir wenig vermissen im Lockdown.
Das eingeschränkte Leben macht uns nichts aus.
Wir sind ja auch Schrullen. Alle beide.
Für ihn als Programmierer läuft der Arbeitsalltag wie gewohnt weiter. Im Gegensatz zu mir hat er genug Aufträge.
„Irgendwann hauen wir uns auf ein Packl und gründen eine Firma“, sagt er tröstend.
Ich schlage vor, uns „Schrulle & Schrat“ zu nennen.
Er findet das gut, findet aber „Schrat & Schrulle“ besser.
Außerdem sind wir uneins, wer von uns die Schrulle und wer der Schrat sein soll.
Jeder will die Schrulle sein. Dabei würde er einen wunderbaren Schrat abgeben, so, wie er oft im Garten steht: mit seinem Hut und seiner Grabgabel. Die Schuhe voller Erde, die Jacke voller Kletten.
Ich schlage vor, uns „Schrulle & Nerd“ zu nennen. Der Nerd will er auch nicht sein.
Das fängt ja gut an.
Später suche ich im Netz nach „Schrulle & Schrat“. Der Name gefällt mir. Ich könnte mir ja schon einmal eine Domain sichern.
Ich kann es nicht glauben. „Schrulle & Schrat“ gibt es bereits: eine Künstlergemeinschaft in Ostdeutschland. Auf der Website ein Bild von einem alten Bauernpaar. Der Bauer mit Hut und Mistgabel sieht aus wie Ian in 20 Jahren aussehen könnte. Die Bäuerin trägt Kopftuch. Sogar ein piepender Spatz ist abgebildet.
Ich könnte heulen. Da hat man einmal eine Idee, und dann.
Alles gibt es schon. Alles.
Ich drehe meine Runde im Garten. Es ist sonnig und sehr kalt. Vor allem ist es trocken. Eine seltsame Kombination. Kalte, staubige Erde. Ich überlege, ob ich die Beete gießen soll. Viel ist noch nicht da, was man gießen könnte. Die austreibenden Tulpen vielleicht. Sonst sprießt hauptsächlich der Mohn, den ich im Herbst auf dem kahlen Fleck bei den Mülleimern gesät habe. Ich war zu größzügig bei der Aussaat. Hunderte, etwa drei Zentimeter hohe Pflänzchen auf dem kleinen Stück Erde. Ich knie mich hin, um zu rupfen. Ich töte einen Teil der Pflanzen, um den anderen das Leben zu erleichtern. Nicht einfach für mich, eine Auswahl zu treffen. „Pikieren“ nennt man das in der Sprache der Gärtner. „Triage“ sagen die Mediziner. So ähnlich muss es jetzt in Italien zugehen. Wäre ich dort Ärztin, ich würde davonlaufen und mich in meinem Bett verstecken.
„Ihr werdet Kompost“, flüstere ich den Gerupften zu.
Alte fürchten sich vor dem Aussortiert werden – so eine Headline heute Morgen. Ich würde mich davor nicht fürchten. Ich wäre höchstens sauer, wenn man mich für aussortierenswert erachten würde. Als minderwertig darf ich mich nur selbst empfinden.
Am Nachmittag wirft Ian die Gartenpumpe an. Wir gießen die Beete mit dem Gartenschlauch. Das Brunnenwasser ist kalt und stinkt nach faulen Eiern. Der Wind wirft mir eisige Sprühnebel ins Gesicht. Danach entleeren wir die Pumpe, weil es in der Nacht wieder frieren soll. Komisch, das alles.
05.05.2021
Stichwort: Blog, Küchentischtage, Land, Texte