Tage am Küchentisch *2

Geschichten aus dem ersten Lockdown.

Noch ein Tag

Vorne, an der Straßenecke sind zwei Autos zusammengestoßen. Ich habe den Aufprall bis zum Küchentisch gehört. Ich beobachte vom Fenster aus, wie die Fahrer aussteigen, beide mit Mundschutz und offenbar unverletzt. Das eine Auto ist ein Kleinwagen, das andere ein Pritschenwagen, der (und das ist das Tragische an diesem Unfall) drei Mobilklos auf der Ladefläche hat. Eines ist auf die Straße gekippt, die anderen beiden stehen schief. Der Fahrer des Kleinwagens tut mir leid. Ein Mobilklo-Transporter gehört zu den Fahrzeugen, mit denen man keinesfalls in einen Unfall verwickelt sein will.

Das bestätigt mich darin, bei allem sehr vorsichtig zu sein. In letzter Zeit fahre ich sehr langsam mit dem Auto. Ich gehe konzentriert über die Wendeltreppe in unserem Haus. Ich halte mich am Handlauf fest, wenn ich die drei Stufen zum Garten nehme. Alles, um keinen Unfall zu provozieren. Um das Gesundheitssystem nicht zusätzlich zu belasten. Es wäre mir peinlich, wegen so etwas wie einem Autounfall die Rettung rufen zu müssen. „Tut mir leid wegen dem Oberschenkelbruch und dem Milzriss“, würde ich zu den Sanitätern sagen. „Klebt einfach ein Pflaster drauf.“
Nein, das würde ich nicht sagen. Ich würde jammern. Ich würde unheimlich jammern. Tapfer bin ich nicht.

Noch ein Tag

Die lockeren Sprüche von Jan gehen mir auf die Nerven. Vor allem, wenn er „bis der Arzt kommt“, sagt. Das höre ich jetzt nicht gern. Vorhin habe ich die Zweige auf der Wiese zusammengerecht. Davon gibt es viele. „Da kannst du rechen, bis der Arzt kommt“, hat er gesagt.
Später, als ich mit meiner Mutter an einem 300-Teile-Puzzle sitze, auch wieder: „Puzzeln, bis der Arzt kommt.“
Ich sage, er könne sich das jetzt sparen.
Er sagt, er könne auch „bis zum bitteren Ende“ sagen.
Ich sage nichts mehr.
Noch schlimmer finde ich die Phrase „end of life“. In Zeiten, wo man ständig etwas von Todesraten hört. Alles ist bei ihm „end of life“: Der Rasenmäher, der Marillenbaum, der Monat März, die Milch im Kühlschrank.
Das Schlimme: Es färbt bereits ab.
„Der ist auch bald end of life,“ sage ich, als der Spatz besonders heiser tschilpt.
„Was?“, sagt meine Mutter.

Der Spatz geht mir auf die Nerven. Jan auch. Neuerdings sagt er immer: „So, …“, wenn er einen Satz beginnt. Vielleicht hat er das immer schon getan. Meine Mutter nervt sowieso. Wegen ihrer extremen Vergesslichkeit gibt sie viel Anlass dazu, wofür sie natürlich nichts kann. Alle paar Stunden fragt sie nach dem Wochentag. Ich habe mir angewöhnt, den jeweiligen Tag auf einen Zettel zu schreiben, damit sie nachschauen kann. Und Mila ­– so dankbar ich bin, dass sie da ist – nervt mit ihrer Geschäftigkeit. Ich verstehe, dass sie nervös ist. Sie weiß nicht, wann sie wieder über die Grenze kann. Sie lenkt sich ab, indem sie noch lauter als sonst mit dem Geschirr klappert dabei immer dasselbe Lied summt. Ein Kirchenlied, da wette ich. Mila ist sehr katholisch. Und Kirchenlieder habe ich immer schon sehr unheimlich gefunden.

Wir gehen einander alle auf die Nerven. Und wir wissen das.
Ich nerve. Du nervst. Er, sie, es nervt. Und so weiter.

28.03.2021

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