Tage am Küchentisch *1

Geschichten aus dem ersten Lockdown, erzählt im dritten.
Oder ist es der vierte?

Ein Tag Ende März 2020

Heute ist mein fünfzigster Geburtstag. Es gibt Erdbeertorte und Sekt. Die Torte habe ich selbst gemacht. Ich habe kein Talent fürs Backen, aber ich habe Zeit. Es gibt nur drei Gäste: Jan*, meine Mutter und Mila*, ihre slowakische Pflegerin. Wir bilden neuerdings einen Haushalt. Wir dürfen feiern.
Vor drei Tagen haben Jan und ich unsere Koffer gepackt und sind zu meiner Mutter aufs Land gezogen. Man weiß ja nicht, wie es weitergeht. Mit der Seuche. Mit den Beschränkungen. Wir wollen die beiden nicht allein lassen. Also sind wir jetzt da.
Milas Tochter hat ein Paket geschickt. Selbstgenähten Mundschutz. In der Slowakei darf man nur mehr mit Mundschutz einkaufen gehen. Wir finden das absurd. Ich stelle die Torte auf den Küchentisch, wir setzen unsere Masken auf. Ich mache Fotos und verschicke sie an ein paar Freunde. Coronaparty, schreibe ich dazu. Ich finde das lustig. Die Freunde auch, zumindest behaupten sie das.
„Wie in Wuhan“, sagen wir und lachen. Ein dummes Lachen.
Wir wissen es nicht besser.

Noch ein Tag

Ich sitze am Küchentisch, ein Heft vor mir. Ich versuche, Dinge aufzuschreiben, die ich an der Krise gut finde. Ich will eine Plus-Minus-Liste anlegen. Beim Plus fällt mir gleich etwas ein. Mein Implantat-Termin beim Zahnarzt ist verschoben worden. Auf unbestimmte Zeit. Eine Absage für eine Zahn-OP – ich finde, das gehört zu den schönsten Dingen, die einem widerfahren können. Ich mache eine Notiz und male ein Plus dazu. Dann fällt mir nichts mehr ein. Mit dem Minus will ich mich lieber nicht beschäftigen. Eine kurze Liste ist das.

Draußen ist es kalt. Und sehr still. Kein Verkehr, auch die üblichen Arbeitsgeräusche sind verstummt. Niemand traut sich auf die Straße. Alle hocken in ihren Häusern und warten. So wie ich. Nur die Vögel lassen von sich hören. Genau genommen der eine Spatz vor dem Küchenfenster. Seit Tagen sitzt er im Marillenbaum und lärmt. Springt von Zweig zu Zweig und macht auf sich aufmerksam. Leider scheint er nur ein einziges Spatzenwort zu kennen: ein schrilles „Tschilp“. Das kann er nicht oft genug wiederholen. Ich frage mich, warum er so schreit. Warum er allein ist. Wo Spatzen doch gesellig sind. Ich will mehr über das Verhalten von Spatzen erfahren.
Die Website des Naturschutzbund gibt mir Auskunft: Es geht um die Fortpflanzung. Um was sonst.

Es sieht so aus, als hätte er einen Nistplatz gefunden. Ich weiß auch, welchen. Im Baum hängt ein altes Nisthäuschen. Ich habe da drin noch nie einen Vogel gesehen, aber letztes Jahr hat dort ein brummendes Hummelvolk gewohnt. Der Spatz (ein Männchen, wie ich jetzt weiß) hat das Häuschen für sich entdeckt. Jetzt sucht er eine Frau. Er ruft nichts anderes als: „Ich hab ein Haus, ich hab ein Haus. Wer will einziehen?“

Er tschilpt auch am nächsten Tag und am übernächsten. Stundenlang. Er bemüht sich, aber keine interessiert sich für ihn. Mittlerweile sitzt er auf dem Dach des Häuschens, vielleicht um noch deutlicher zu werden. Es ist nicht so, dass es keine Spatzen in der Gegend gäbe. Am Morgen haben sich zwei Weibchen auf den Zaun gesetzt, um ihn sich näher anzusehen. Kurz darauf waren sie weg. Der Spatz ist hinterher, aber allein zurückgekommen und hat weitergemacht mit dem, was ein Spatzenmann tun muss: Tschilpen.

Jan und ich fragen uns, warum ihn keine will. Vielleicht ist er jung und unerfahren und findet nicht die richtigen Worte. Oder er hat einen schlechten Geschmack, was Häuschen angeht. (Wo einmal Hummeln drin waren, nistet man doch nicht!) Oder er ist auch den Spatzenfrauen zu laut.


* Ich habe die Namen geändert, weil ich da und dort ein bisschen übertrieben habe. In Wirklichkeit sind alle viel netter, besonders mein Mann!

05.02.2021

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