Flieg mit mir

sfd& gespenster / zeitschrift der schule für dichtung, 2020

Drei Mal bin ich ihm begegnet, immer bei der U-Bahn. Zuerst am Karlsplatz unten. Ich hab auf den Zug gewartet, wie viele andere auch.
„Ist das Ihre Tasche?“, hat jemand gesagt.
Das war er. Dieser Kerl mit dem argen Blick. Mit Augen wie Löcher, aus denen es gefunkelt hat, dass mir ganz anders geworden ist. 
„Gehört die Tasche Ihnen?“, hat er gesagt.
„Was für eine Tasche?“
Und da war sie, die Tasche, die vorher nicht dagewesen ist. Direkt zu meinen Füßen. Eine blitzblaue Sporttasche mit Aufdruck: Fly with me.
„Meine ist das nicht.“
„Das ist beunruhigend. Sie sind der Letzte, der noch in Frage gekommen wäre. Den anderen gehört sie auch nicht.“
„Ja, und?“
„Es passiert so viel Grauenvolles. Da fängt man an nachzudenken. Bei einer herrenlosen Tasche.“
„Ach so“, hab ich gesagt und ihn mir angeschaut. Dünn war er. Alt war er. Einen hellen Sommeranzug hat er angehabt, viel zu groß und ganz zerknittert. Ich glaube, ich habe noch nie einen so zerknitterten Anzug gesehen.
Ich wollt mich lieber verdrücken. Hab ihm zugenickt und mich zwischen den Leuten durchgequetscht. Hab mich gefragt, wie weit man weg sein muss, wenn so eine Bombe hochgeht. Und ob ich die zwei Kinder am Bahnsteig retten soll. Habs sein lassen. Hätte nur Ärger mit der Mutter gegeben.
Der Zug ist gekommen. Bin eingestiegen. Nichts ist passiert.

„Gehört die Tasche Ihnen?“
Wochen später, diesmal in der U-Bahn. Wieder er, mit seinem Anzug und mit seinem Blick. Wieder die Tasche am Boden: Fly with me.   
Wir fast allein im Wagon. Bis auf eine junge Frau mit blitzblau lackierten Fingernägeln.
„Stellen Sie sich vor“, hat er gesagt. „Stellen Sie sich einmal vor …“
Ich hab mich zur Tür gestellt. Obwohl ich gar nicht aussteigen hab müssen. Er gleich hinter mir.
„Ärgerlich“, hat er gesagt. „Wenn man einmal so ein Bild im Kopf hat, wird man es nicht mehr los. Nicht wahr?“
„Was für ein Bild?“ Doch da war es schon, das Bild: Blut an den Scheiben. Blut auf den Sitzen. Und eine abgerissene Frauenhand mit blitzblauen Fingernägeln.
Ich bin ausgestiegen, er nicht. Das Bild hat mich noch lange begleitet: die Frauenhand – ohne Frau dran.

Das dritte Mal war im letzten Winter. Wieder Karlsplatz. Oben, neben der Rolltreppe ist er gestanden. Als hätte er auf mich gewartet. Mit seinem Sommeranzug und seiner „herrenlosen“ Tasche.
„Ich will mich verabschieden“, hat er gesagt. „Ich gehe in den Ruhestand.“
„Aha“, hab ich gesagt.
„Weil sie immer so nett waren,“ hat er gesagt, „hinterlasse ich Ihnen die Tasche“. Und gegrinst hat er, dass mir ganz anders geworden ist. So ungut heiß, wie einem nur sein kann. Das Herz, hab ich gedacht, jetzt ist es aus. Aber es war nicht aus. Und er war auf einmal weg.

Gestorben bin ich an einem anderen Tag. Und zwar wirklich bei einer Explosion in der U-Bahn-Station. Er war eine Gasleitung, die in die Luft geflogen ist. Und ich mit ihr. Ich war mir sicher, dort die eine Frauenhand gesehen zu haben. Aber das muss ich mir eingebildet haben. Ich war nämlich das einzige Opfer. Hat er mir nachher erzählt.